Ihr Studium war die Hölle. Natürlich - schließlich will "sie" nicht irgendeinen Weichling, der sich mit dem monatlichen Scheck von Papa einen faulen Lenz gemacht hat. Nein: Sie kommen aus einfachen Verhältnissen, niemand in Ihrer Familie hatte zuvor die Möglichkeit, ein Studium zu ergreifen und Sie mußten sich jeden Pfennig selbst verdienen.
So war Ihr Tagesablauf klar: Ab 8 Uhr morgens besuchten Sie jede Veranstaltung. Die kurze Zeit zwischen zwei Vorlesungen verbrachten Sie damit, noch schnell etwas an Literatur durchzulesen, während Ihre Mitstudenten sich in der - für Sie ohnehin zu teueren - Cafeteria entspannten. Sie übernahmen freiwillig Tutoren- und Hilfskraft-Jobs. Weniger wegen des Geldes - da verdienten Sie bei Ihren Nebenjobs mehr -, sondern um Kommilitonen unterstützen zu können.
Ach ja, die Nebenjobs: Die waren ohnehin ein Kapitel für sich. Sie haben so ziemlich alles mitgemacht, was es auf dem Markt gibt: Container entladen bei Iveco, am Band bei Mercedes, Burger eintüten bei McDonalds und Stripper im Blue-Moon. Beim letzten Punkt wird "sie" eventuell aufhorchen. Dann nicken Sie nachdenklich und beschreiben Ihre damaligen Gefühle: "Ich weiß - Du wirst jetzt denken: Mein Gott, wie konnte er so tief sinken? Aber weißt Du, ich hatte nur ein Ziel vor Augen: Arzt zu werden, um den Menschen in Indien helfen zu können. Es war keine schöne Zeit im Blue-Moon. Ständig den hungrigen Blicken alleinstehender Frauen ausgesetzt zu sein, während Kleidungsstück um Kleidungsstück fiel. Gierige Hände, die mir die 50-Mark-Scheine in den Slip steckten. Pfiffe, Gejohle und eindeutige Angebote." (An dieser Stelle schaudern Sie kurz zusammen.) "Nicht, daß es nicht außerordentliche attraktive Frauen bei den Zuschauerinnen gegeben hätte: Blond, üppige Oberweiten, lange Beine bis zum Bauchnabel. Aber weißt Du - ich kam innerlich nicht damit zurecht, nur als Sexobjekt betrachtet zu werden. So schaltete ich mit der Zeit völlig ab, während ich mich auszog, ging in Gedanken meine nächste Klausur oder ein medizinisches Fachlexikon durch ..."
Schließlich hielten Sie es im Blue-Moon nicht mehr aus und wurden statt dessen Nachtpfleger auf einer Kinder-Krankenstation. Sie spendeten Trost, setzten sich stundenlang auf die Bettkanten, um Geschichten vorzulesen, hatten für jeden ein gutes Wort oder einen lustigen Einfall und brachten Ihr eigenes altes Spielzeug mit, wenn Sie merkten, daß ein Kind traurig war.
Erschöpft kehrten Sie in den frühen Morgenstunden nach Hause zurück. Wenn Ihr Weg Sie dabei an der Diakonie-Station vorbeiführte, warfen Sie auch dort einen Blick hinein, füllten mit Obdachlosen Formulare aus, versorgten andere mit Kaffee und Butterstullen und brachten Rollstuhlfahrer noch eben zum Bahnhof.
Obwohl Sie sich immer fest vornahmen, dann zu Hause noch einen Blick in die Bücher zu werfen, schliefen Sie meist im Licht der Schreibtischlampe ein.
In Teil III der Vita wird es um ein Thema gehen,
das alle Frauen interessiert: Wie war Ihre erste große Liebe?
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