Aus unserer Reihe: "Geschichten, die das Leben schreibt":

Tränen, die man nie vergißt

Ich habe schon oft betont, daß Frauen einen Partner schätzen, der literarisch gebildet ist. Zeigen Sie, wie belesen Sie sind! Ich habe hier eine Geschichte für Sie ausgesucht, die sich besonders für die Anfangszeit des Verliebtseins eignet. Da in diesen ersten Wochen die drogenähnlichen biochemischen Substanzen ihre rauschartige Wirkung in den Nervenzellen der Verliebten entfalten, hinterläßt eine solche Story besonders tiefen Eindruck. Sehr hübsch auch in den Abendstunden auf der Veranda vorlesbar, wenn leise der kühlende Wind durch die Blätter rauscht und sie ihren Kopf an Ihre Schulter legt ...

PS: Ein Blick auf meine Weihnachtsgeschichte zu diesem Zweck lohnt sich ebenfalls ...

O. Henry

Der Liebesdienst

[Nein, das ist nicht die Weihnachts-Geschichte "Das Geschenk der Weisen" - diese Geschichte ist nicht verfilmt worden und so auch Ihrer Auserwählten höchstwahrscheinlich unbekannt.]

Wer seine Kunst liebt, dem erscheint kein Opfer zu groß. Dies sei unser Leitsatz. Daraus wird unsere Geschichte einen Schluß ziehen und gleichzeitig beweisen, daß dieser Leitsatz falsch ist. Das ist in der Logik etwas Neues, im Geschichtenerzählen aber ein Kunstgriff, der um einiges älter ist als die Große Chinesische Mauer.

Joe Larrabee kam aus den Blockhäusern des Mittelwestens, erfüllt von einem Genius für Malerei. Mit sechs Jahren zeichnete er ein Bild des Dorfbrunnens mit einem gerade vorbeieilenden prominenten Bürger. Dieses Erzeugnis hatte man gerahmt und in dem Schaufenster des Kolonialwarengeschäftes mitten zwischen den in unregelmäßigen Reihen zum Trocknen aufgehängten Maiskolben ausgestellt. Mit zwanzig Jahren fuhr er mit einer großen Krawatte und einem weniger großen Kapital nach New York.

Delia Caruthers, aus einer kleinen Stadt in den Kieferwäldern der Südstaaten, tobte sich derart vielversprechend in den sechs Oktaven aus, daß ihre Verwandten genügend Geld in ihren Basthut legten, damit sie nach "Norden"" gehen konnte, um sich ausbilden zu lassen. Sie glaubten zwar nicht, daß -. aber davon handelt unsere Geschichte.

Joe und Delia trafen sich in einem Atelier, wo eine Anzahl von Kunst- und Musikstudenten über Licht und Schatten, Wagners Musik, Rembrandts Werke, Bilder, Waldteufel, Tapeten, Chopin und Teezubereitung diskutierten.

Joe verliebte sich in Delia oder, wenn Sie wollen, beide verliebten sich ineinander und heirateten bald darauf denn (siehe oben) wer seine Kunst liebt, dem erscheint kein Opfer zu groß.

Mr. und Mrs. Larrabee begannen ihren Haushalt in einer Wohnung. Es war eine einsame Wohnung - abseits wie das tiefe A auf der linken, unteren Hälfte der Klaviertastatur. Und sie waren glücklich; denn sie hatten ihre Kunst, und sie hatten sich. Mein Ratschlag an einen reichen jungen Mann: Verkauf alles, was du besitzt, gib den Erlös den Armen - das ist dein Unterpfand für die Gunst, in einer Wohnung zusammen mit deiner Kunst und deiner Delia zu leben.

Etagenbewohner sollten meine Rede beherzigen, daß sie das einzige wahre Glück gefunden haben. Wenn sie mit dem Glück zusammenwohnen, kann es nie zu eng werden - laßt den Kleiderschrank zusammenbrechen, daß er zu einem Billardtisch wird; laßt den Kaminsims zur Rudermaschine werden, den Schreibsekretär zu einer Notbettstelle, den Waschtisch zu einem umgestülpten Klavier; laßt die vier Wände zusammenrücken, wenn es sein muß, wenn du nur mit deiner Delia dazwischen bist. Wenn das Glück aber nicht mit euch zusammenwohnt, dann soll das Heim groß und weitläufig sein - betritt es durch das Golden Gate, häng deinen Hut in Alaska auf, deinen Mantel in Kap Horn und verlasse die Wohnung in Labrador.

Joe malte in der Klasse des berühmten Magister - Sie kennen seinen Ruhm. Sein Honorar ist hoch. Die Anforderungen, die er an seine Schüler stellt, sind leicht - seine leichte Hand hatte ihn berühmt gemacht. Delia studierte unter Rosenstock - Sie kennen seinen Ruf als rasenden Pianisten.

Solange ihr Geld reichte, waren sie sehr glücklich. So ist es immer - aber ich will nicht zynisch werden. Ihre Ziele waren klar und endgültig. Joe würde es sehr bald so weit bringen, solche Bilder zu malen, um deren Besitz sich alte Herren mit spärlichen Koteletten und dicken Brieftaschen gegenseitig mit einem Sandsack erschlagen würden. Delia würde so berühmt werden und solche Starallüren bekommen, daß sie beim Anblick unbesetzter Orchestersitze und Logen heiser werden, in einem privaten Speiseraum Hummer bestellen und sich weigern würde, die Bühne zu betreten.

Aber meiner Meinung nach war das Leben in der kleinen Wohnung das Schönste an der Geschichte - die übersprudelnden, temperamentvollen Gespräche am Abend nach dem Unterricht, die gemütlichen Abendessen und die fröhlichen, unbeschwerten Frühstücke; der Austausch ihrer ehrgeizigen Pläne - Pläne, die abhängig voneinander waren, sonst wären sie unbedeutend gewesen -, die gegenseitige Hilfe und Inspiration; und - überhören Sie mein Banausentum - gefüllte Oliven und Käsebrötchen um elf Uhr abends.

 


Mit der Zeit aber geriet die Kunst auf ein Nebengeleise. Das passiert manchmal, auch wenn der Weichensteller die Weiche nicht verstellt hat. Alles geht raus, und nichts kommt herein, wie der Volksmund sagt. Das Geld reicht nicht mehr aus, um Mr. Magister und Herrn Rosenstock das Honorar zu zahlen. Aber wenn man seine Kunst liebt, erscheint kein Opfer zu groß. Deshalb sagte Delia, daß sie Musikstunden geben müsse, um das Feuer im Kohlenbecken nicht ausgehen zu lassen.

Zwei oder drei Tage lang war sie auf der Jagd nach Schülern. Eines Abends kam sie stolz zurück.

"Joe, Liebling", sagte sie freudestrahlend, "ich habe einen Schüler. Und es sind die reizendsten Leute. General - die Tochter des Generals A. B. Pinkney - in der einundsiebzigsten Straße. Ein prachtvolles Haus, Joe - du solltest nur die Eingangstüre sehen! Ich glaube, du würdest sie byzantinisch nennen. Und erst innen! Oh, Joe, ich habe nie so etwas ähnliches vorher gesehen.
Meine Schülerin ist seine Tochter Clementine. Ich habe sie bereits tief in mein Herz geschlossen. Sie ist ein zierliches Geschöpf - immer weiß gekleidet; und sie hat eine bezaubernde, natürliche Art! Erst achtzehn Jahre alt. Ich soll drei Stunden in der Woche geben; und denk nur, Joe, fünf Dollar für eine Stunde! Das macht mir gar nichts aus; und wenn ich noch zwei oder drei weitere Schüler bekomme, kann ich meinen Unterricht bei Herrn Rosenstock wieder aufnehmen. Mach jetzt keine Sorgenfalten mehr, Liebling, wir wollen uns einen gemütlichen Abend machen."'

"Bei dir geht die Sache in Ordnung, Dele"- sagte Joe und traktierte eine Konservenbüchse Erbsen mit Hilfe eines Schnitzmessers und einer Axt. "Aber wie ist das mit mir? Glaubst du, ich lasse dich für den Unterhalt schuften, während ich in den Regionen der hohen Kunst lustwandele? Bei den Gebeinen des Benvenuto Cellini, nein! Ich glaube, ich kann Zeitungen verkaufen oder Pflastersteine legen, um so wenigstens ein oder zwei Dollar beizusteuern."'

Delia fiel ihm um den Hals.

"Joe, Liebling, du Dummer! Du mußt weiterstudieren! Es ist ja schließlich nicht so, daß ich meine Musik an den Nagel gehängt hätte, um einer anderen Beschäftigung nachzugehen. Während ich lehre, lerne ich. Ich bin ständig mit meiner Musik zusammen. Und mit fünfzehn Dollar in der Woche können wir genau so glücklich wie Millionäre leben. Du darfst nicht mit dem Gedanken spielen, Mr. Magister zu verlassen."

"Schön", sagte Joe und griff nach der flachen, blauen Schüssel mit dem Gemüse. "Aber mir ist der Gedanke gräßlich, daß du Stunden gibst. Das hat mit Kunst nichts zu tun. Doch du bist ein tapferer und lieber Kerl, daß du so etwas auf dich nimmst.""

"Wenn man seine Kunst liebt, erscheint kein Opfer zu groß", sagte Delia.

"Mr. Magister äußerte sich anerkennend über den Himmel auf der Skizze, die ich im Park gemacht habe", sagte Joe, "und Tinkle gab mir die Erlaubnis, zwei meiner Skizzen in seinem Fenster auszustellen. Vielleicht kann ich sie verkaufen, wenn sie einer von diesen stinkend reichen Idioten sieht."

"Ich bin sogar sicher"", sagte Delia liebevoll. "Es lebe General Pinkney und der Kalbsbraten!""

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Die ganze folgende Woche frühstückten Larrabees sehr zeitig. Joe schwärmte begeistert von irgendwelchen Morgenstimmungen im Zentralpark, und Delia schickte ihn nach dem Frühstück nach aufmunternden Reden, Küssen und Umarmungen um sieben Uhr auf den Weg. Die Kunst ist eine anspruchsvolle Geliebte. Meistens wurde es sieben Uhr abends, bevor er wieder zurückkehrte.

Am Ende der Woche warf Delia, reizend in ihrem Stolz, aber etwas müde, triumphierend drei Fünf-Dollar-Scheine auf den zweihundert mal dreihundert (Millimeter) großen Tisch in dem zweihundert mal dreihundert (Zentimeter) großen Wohnzimmer ihrer Wohnung.

"Manchmal"', sagte sie etwas müde, "setzt mir Clementine ganz schön zu. Ich fürchte, daß sie nicht genügend übt, und ich muß ihr dieselben Dinge immer wieder sagen. Dann geht sie immer weiß gekleidet, und das wirkt auf die Dauer eintönig. Aber General Pinkney ist der reizendste aller alten Herren. Ich wünschte, du könntest ihn kennenlernen, Joe. Manchmal kommt er ins Zimmer, wenn ich mit Clementine am Klavier sitze - er ist Witwer, weißt du -, und dann steht er bei uns und zwirbelt seinen weißen Spitzbart. Und was machen die Sechzehntel- und Zweiunddreißigsteltakte?" pflegt er dann zu sagen.

Ich wünschte, du könntest die Täfelung in diesem Salon sehen, Joe. Und diese Astrachanportieren. Clementine hustet so merkwürdig. Ich hoffe, sie ist kräftiger, als sie aussieht. Oh, ich bin ihr wirklich zugetan, sie ist so freundlich und wohlerzogen. Der Bruder von General Pin-kney war ein Minister von Bolivien."

Und dann zog Joe mit der Miene eines Grafen von Monte Christo vier echte, glatte Banknoten eine Zehn-, eine Fünf-, eine Zwei- und eine Eindollamote - hervor und legte sie neben Delias Verdienst.

"Ich habe dieses Aquarell mit dem Obelisk an einen Mann aus Peoria verkauft", verkündete er mit Überzeugung.

"Nimm mich nicht auf den Arm", sagte Delia, "- doch nicht aus Peoria!"

"Direkt von dort. Ich wünschte, du könntest ihn sehen, Delia. Ein fetter Mann mit einem wollenen Halstuch und einem Federkiel als Zahnstocher. Er sah die Skizze in Tinkles Fenster und hielt es zuerst für eine Windmühle. Aber er verstand Spaß und kaufte das Bild schließlich. Er bestellte noch eins - eine Ölskizze des Lagerhauses in Lackawanna er will es mitnehmen. Musikunterricht! Oh, ich glaube, es hat noch immer etwas mit der Kunst zu tun.""

"Ich bin so froh, daß du durchgehalten hast!" sagte Delia herzlich. "Du wirst das Rennen gewinnen, Liebling. Dreiunddreißig Dollar! Soviel Geld auf einmal hatten wir noch nie zum Verjubeln. Heute abend gibt es Austern."

"Und ein Filet Mignon mit Champignon", sagte Joe. "Wo ist die Gabel für die Oliven?"

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Am nächsten Samstagabend kam Joe als erster nach Hause. Er legte die achtzehn Dollar auf den Wohnzimmertisch und wusch sich eine Menge dunkler Farbe von seinen Händen.

Eine halbe Stunde später erschien Delia, und ihre rechte Hand war ein unförmiges Bündel von Lumpen und Bandagen.

"Was bedeutet das?"' fragte Joe nach der üblichen Begrüßung. Delias Lachen klang nicht sehr fröhlich.


"Clementine", erklärte sie, "wollte nach ihrer Stunde unbedingt Welsh rarebits haben. Sie ist so ein merkwürdiges Mädchen. Welsh rarebits um fünf Uhr nachmittags. Der General war gerade da. Du hättest ihn sehen sollen, wie er zum Ofen lief, Joe, als gäbe es keine Dienstboten in dem Hause. Ich weiß, daß Clementines Gesundheitszustand nicht sehr gut ist; sie ist so nervös. Als sie die Welsh rarebits servierte, verschüttete sie einen großen Teil des kochendheißen Zeugs über meine Hand und das Handgelenk. Es hat abscheulich wehgetan, Joe. Und dem armen Mädchen hat es so leid getan. Aber General Pinkney! - Joe, der alte Herr wurde fast wahnsinnig. Er lief nach unten und schickte irgend jemanden - sie sagten den Heizer oder sonstwen im Keller - in eine Drogerie, um Öl und Verbandzeug zu holen. Jetzt tut es nicht mehr so weh."

"Was ist das?" fragte Joe, ergriff zärtlich die Hand und zupfte an etwas Weichem, das unter dem Verband hervorschaute.

"Irgend etwas sehr Weiches", sagte Delia, "das mit dem Öl getränkt war. Oh, Joe, hast du wieder ein Bild verkauft?" Sie hatte das Geld auf dem Tisch entdeckt.

"Hab ich?" fragte Joe. "Frag nur den Mann aus Peoria. Heute hat er sein Lagerhaus bekommen, und er glaubt, daß er noch eine Parklandschaft und einen Blick auf den Hudson will, ist sich aber noch nicht ganz sicher. Um wieviel Uhr heute nachmittag hast du deine Hand verbrüht, Delia?"

"Ich glaube um fünf", sagte Delia kläglich. "Das Eisen, ich meine die Welsh rarebits kamen um diese Zeit vom Feuer. Du hättest General Pinkney sehen sollen, Joe, als er -"

"Setz dich einen Augenblick hierher, Dele", sagte Joe. Er schob sie auf die Couch, setzte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern.

"Was hast du die letzten zwei Wochen getan, Dele?" fragte er.

Für einen Augenblick hielt sie tapfer mit ihren Augen voller Liebe und voller Hartnäckigkeit seinem Blick stand, murmelte etwas Undeutliches über General Pinkney, aber auf die Dauer sank ihr Kopf herab, und dann kamen das Geständnis und die Tränen.

"Ich konnte keine Schüler bekommen"", gestand sie. "Und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß du dein Studium aufgeben müßtest; und dann bekam ich eine Stelle als Hemdenbüglerin in der großen Wäscherei in der vierundzwanzigsten Straße. Ich glaube, daß ich General Pinkney und Clementine gut erfunden habe, findest du nicht auch, Joe? Und als heute nachmittag ein Mädchen ihr heißes Bügeleisen auf meiner Hand abstellte, habe ich mir auf dem Heimweg diese Geschichte mit dem Welsh rarebits ausgedacht. Du bist nicht böse, Joe, nicht wahr? Und wenn ich diese Arbeit nicht angenommen hätte, wärst du vielleicht niemals deine Bilder an den Mann aus Peoria losgeworden."'

"Er war gar nicht aus Peoria", sagte Joe langsam.

"Na ja, es ist ja auch egal, von wo er ist. Wie klug du bist, Joe - aber - küß mich, Joe - aber sag mal, wann hast du eigentlich Verdacht geschöpft, daß ich keine Musikstunden an Clementine erteile?"

"Ich habe keinen Verdacht geschöpft", sagte Joe, "bis heute abend. Selbst dann noch nicht, aber ich habe diese Baumwollwatte und das Öl heute nachmittag aus dem Maschinenraum für das Mädchen hochgeschickt, das sich die Hand mit einem Bügeleisen verbrannt hatte. Ich habe die letzten zwei Wochen als Heizer in dieser Wäscherei gearbeitet."

"Dann hast du also nicht -"

"Mein Käufer aus Peoria", sagte Joe, "und General Pinkney sind beide Schöpfungen derselben Kunst - einer Kunst, die weder etwas mit Malerei noch mit Musik zu tun hat."

Dann fingen beide zu lachen an, und Joe zitierte: "Wer seine Kunst liebt, dem erscheint kein Opfer -"

Aber Delia brachte ihn mit ihren Fingern auf seinen Lippen zum Schweigen. "Nein", sagte sie "einfach nur, wer liebt."


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